17.04.2019
Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach stellte sich der Verantwortung für die Geschichte seiner Familie. Nach einer Beratung durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste entschloss er sich, eine Studie zum Kunstbesitz seiner Großeltern Baldur und Henriette von Schirach aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Das Zentrum vermittelte ihm mit dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München einen erfahrenen Projektträger, der – ohne jegliche Einflussnahme Ferdinand von Schirachs – eine Provenienzforscherin mit der Recherche beauftragte. Auf diese Weise wurde die Unabhängigkeit der Studie sichergestellt, worauf Ferdinand von Schirach einen hohen Wert legte. Erst bei der Präsentation der Forschungsergebnisse traf er die Provenienzforscherin Theresa Sepp.
Die Studie verfolgte drei Ziele: Zunächst die Rekonstruktion des Kunst- und Kulturgutbesitzes, über den das Ehepaar von Schirach zwischen 1933 und 1945 verfügte. Im Weiteren sollte die historische Rolle Baldur von Schirachs als „Reichsstatthalter“ in Wien ab 1940, bezogen auf die Entziehung- und Verwertung von Kunstwerken untersucht werden. Und schließlich rekonstruierte die Forscherin die Bemühungen Henriette von Schirachs um Rückgabe des zum Kriegsende durch die Alliierten eingezogenen Besitzes. Die Ergebnisse dieser viermonatigen Studie liegen nun vor und sind im Faktenblatt im Anhang kurz zusammengefasst.
Ferdinand von Schirach stellte resümierend fest: „Dass meine Großmutter auch nach dem Krieg, nach den Bildern der Befreiung von Auschwitz, Gegenstände und Kunstwerke von den Behörden herausforderte, die jüdischen Familien geraubt wurden, erfüllt mich mit Scham und Wut. Das ist eine zweite Schuld, eine Wiederholung der furchtbaren Verbrechen, ein erneuter Raub. Vielleicht hilft es den Opfern und ihren Nachkommen zu erfahren, was die Historiker heute noch ermitteln können. Ich appelliere in diesem Zusammenhang an den Gesetzgeber, die Kunsthändler und Auktionshäuser in diesen eindeutigen Fällen zu zwingen, ihre Archive offenzulegen. Meines Erachtens wiegen die berechtigten Interessen der Opfer und der Forschung weit schwerer, als der hier zweifelhafte Persönlichkeitsschutz der Käufer und Verkäufer. Ich würde mich freuen, wenn andere Familien einen ähnlichen Weg gehen würden. Es ist jetzt unser Staat und unsere Verantwortung.“
Der umfangreiche Forschungsbericht kann im “Modul Forschungsergebnisse” des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste recherchiert werden.
Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
Stiftung bürgerlichen Rechts
Pressestelle
Humboldtstraße 12 | 39112 Magdeburg
Telefon +49 (0) 391 727 763 24
Telefax +49 (0) 391 727 763 6
presse@kulturgutverluste.de
www.kulturgutverluste.de
____________________________
Anhang zur Pressemitteilung
Faktenblatt
Vorstudie Kunstbesitz Baldur und Henriette von Schirach
Laufzeit: 7. Mai bis 31. August 2018
https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Forschungsfoerderung/
Kurztext Projektbeschreibung und Ergebnisse:
Das viermonatige Projekt umfasste drei Komplexe. Zunächst wurde eine Dokumentation jener Kunst- und Kulturgüter, die sich zwischen 1933 und 1945 in Besitz von Baldur von Schirach und seiner Ehefrau Henriette befanden, erstellt und die Herkunft und der Verbleib möglichst vieler Gegenstände bearbeitet. Umfang und Art der Objekte waren bislang unbekannt. Insgesamt konnten 132 Kunstgegenstände dokumentiert und 70 Möbel und Einrichtungsgegenstände festgestellt werden. Daneben wurden ca. 490 Bücher mit Titel erfasst, was allerdings nur einen Bruchteil der Bibliothek der Schirachs darstellt. Für mindestens 5 Objekte konnte ein eindeutiger NS-verfolgungsbedingter Entzug festgestellt werden. Daneben weisen mindestens 45 Objekte eine zumindest bedenkliche Provenienz auf, da sie Schirach in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten erwarb. Über die Rekonstruktion der Sammlung hinaus galt es, Baldur von Schirachs Rolle darzustellen, die er als Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien ab 1940 im Entziehungs- und Verwertungsprozess von Kunstgegenständen einnahm. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass Schirach nicht nur seine Funktion als Reichsstatthalter ausnutzte, um Kunstwerke aus beschlagnahmten Sammlungen zu erwerben, sondern auch von seinen Privilegien als hoher NS-Funktionär Gebrauch machte, um sich auf dem Kunstmarkt finanziell zu bereichern. Der dritte Themenkomplex des Projektes sollte sich mit Henriette von Schirachs Bemühungen um die Rückgabe des eingezogenen Vermögens ab den späten 1940er Jahren befassen. Dass die Rückgaben beinahe das gesamte 1945 eingezogene Vermögen von Baldur von Schirach umfassten, war bislang in dieser Dimension nicht bekannt.
Langfassung: Zusammenfassung der Forschungsergebnisse:
Ziele der Forschung
- Rekonstruktion des Besitzes von Kunst- und Kulturgut, über den Baldur und Henriette von Schirach zwischen 1933 und 1945 verfügten
- Kontextforschung zur historischen Rolle von Baldur von Schirach im Entziehungs- und Verwertungsprozess von Kunstgegenständen als Reichsstatthalter in Wien ab 1940
- Bemühungen Henriette von Schirachs um Rückgabe des eingezogenen Besitzes nach 1945
Ergebnisse zu 1
Auf Basis der in der Datenbank zum Central Collecting Point (CCP)
München zugänglichen Karteikarten, die das nach Kriegsende
eingezogene Inventar aus den von der Familie Schirach
bewohnten Immobilien Schloss Aspenstein in Kochel und in
Urfeld im Einzelnen verzeichnen, und weiteren
Archivrecherchen zu den in der Dienstvilla auf der Hohen Warte
in Wien aufbewahrten Objekten wurden Herkunft und Verbleib des
Kulturgutbesitzes von Baldur und Henriette von Schirach
möglichst weitgehend dokumentiert. Auf diese Weise konnten 132
Kunstgegenstände, 70 Möbel und Einrichtungsgegenstände und
ca. 490 Bücher mit Titel (die Bibliothek umfasste tatsächlich
ca. 12.000 Bände) erfasst werden. Für mindestens 4 der Kunstwerke
wurde ein NS-verfolgungsbedingter Entzug eindeutig
festgestellt. Mindestens 45 Objekte weisen zudem eine
bedenkliche Provenienz auf, da von Schirach sie in vom Deutschen
Reich besetzten Gebieten (Frankreich und Niederlande) erwarb.
Ergebnisse zu 2
Baldur von Schirach nutzte seine Funktion als Reichsstatthalter
nachweislich aus, um Kunstwerke aus in Wien beschlagnahmten
Sammlungen zu erwerben. Zur „Verwertung“ freigegebene
Kunstobjekte erwarb er sowohl über die „Vugesta“, als auch
direkt über sein Büro sowie über Kunsthändler. Zudem erwarb von
Schirach Kunstwerke aus dem besetzten Frankreich und nutzte
seine Privilegien als Funktionsträger des NS-Regimes, um
beschlagnahmte Kunstwerke über die in Den Haag ansässige
„Dienststelle Mühlmann“ günstig zu erwerbenund sie
gewinnbringend auf dem deutschen Kunstmarkt zu verkaufen.
Ergebnisse zu 3
Von den 60 nach Ende des Krieges in Kochel aufgefundenen und in
den Central Collecting Point (CCP) gebrachten Kunstgegenständen
erhielt Henriette Hoffmann-von Schirach ab 1948 insgesamt 34
ohne Gegenleistung ausgehändigt, 19 erwarb sie käuflich vom
Staat. Drei Kunstwerke wurden restituiert und eines zerstört
(ein Porträt Baldur von Schirachs). Für drei Kunstgegenstände
konnte der Verbleib nach der Übertragung auf den Freistaat Bayern
im Jahr 1952 nicht geklärt werden. Von den 68 im CCP
sichergestellten Möbeln und Einrichtungsgegenständen erhielt
Henriette von Schirach 58 Objekte kostenfrei ausgeliefert, 7
Objekte kaufte sie zurück. Bei den 3 verbleibenden
Gegenständen handelte es sich um leere Rahmen, die
möglicherweise zusammen mit den passenden Kunstwerken
zurückgingen, ohne dass dies dokumentiert wurde. Somit
gelangten ca. 92% der zum Zwecke der Restitution und der
Wiedergutmachung eingezogenen Kunstgegenstände und Möbel
wieder in Familienbesitz. Allerdings sind in dieser Anzahl
weder die Rückgaben und -käufe aus der Bibliothek noch aus der
Einziehung des Besitzes von Henriettes Vater Heinrich Hoffmann
berücksichtigt. Im Falle des „Holländischen Platzbildes“ aus
dem Besitz von Heinrich Hoffmann erzielte Henriette von
Schirach zudem mit dem Verkauf einen erheblichen Gewinn.