Provenienzforschung zu Objekten aus kolonialen Kontexten hat in den letzten Jahren eine enorme mediale Aufmerksamkeit erfahren und wird zumeist als eine Frage von Raubgut und Rückführung behandelt. Doch das Spektrum an Formen, in denen Kulturgüter in kolonialen Netzwerken produziert wurden und zirkulierten, ist weitaus komplexer und oftmals widersprüchlich. Es umfasst z.B. in Ostasien u.a. diplomatische Geschenke und eine gezielte Produktion zweitklassiger Waren für den Export. Auch in anderen Weltgegenden schließen Objekttransfers nicht selten einheimische Zwischenhändler:innen oder ein von den Herkunftsgemeinschaften aktiv betriebenes Anbieten von Kulturgütern mit ein. Neben Fälschungen archäologischer Artefakte aus Lateinamerika und Ostasien fällt in den kolonialzeitlichen Sammlungen eine Vielzahl von „religiösen“ Skulpturen aus Afrika und Ozeanien auf, die unmöglich allesamt geweihte Originale aus dem rituellen Gebrauch sein können. Auch Auftragsarbeiten für Museumssammlungen und frühe rein touristische Souvenirs sind in kolonialen Sammlungen aus allen Erdteilen verbreitet. Forschende und Museen zögern bisher, diesen Objektbestand näher zu thematisieren. Sie befürchten einerseits den Wert und die Authentizität ihrer Sammlungen in Zweifel zu ziehen, andererseits möchten sie den Eindruck vermeiden, sie würden koloniales Unrecht verharmlosen.
Eine seriöse Auseinandersetzung mit kolonialen Sammlungen und der Zukunft ethnologischer Museen muss sich diesen Fragen aber stellen. Denn, indem wir die Rolle der Indigenen in den Objekttransfers ignorieren, laufen wir Gefahr, ihnen ihre Rolle als historische Akteur:innen abzusprechen, sie als vermeintlich naive, willen- und wehrlose Opfer abzutun und befeuern damit letztlich nur europäische Überlegenheitsfantasien. Anstatt die Brutalität des Systems kolonialer Herrschaft zu relativieren, gilt es also, sowohl den bisweilen erfolgreichen Widerstand gegen die europäische Sammelwut als auch die aktive Rolle der Herkunftsgemeinschaften in den historischen Objekttransfers als Überlebensstrategie und eine Form des kulturellen Widerstands zu würdigen. So kann die Produktion von Railway Art (an Bahnhöfen verkauftes Kunsthandwerk) als eine subalterne Strategie gelten, um zumindest marginal von der eigentlich zur europäischen Herrschaftssicherung und Ausbeutung geschaffenen Infrastruktur ökonomisch zu profitieren. Zudem konnte mit der Objektproduktion vielfältiges traditionelles Wissen – von Handwerkstechniken bis hin zu religiösen Symboliken – bewahrt werden. Vereinzelt können heutige Gemeinschaften (z.B. durch das Studium von touristischen Bootsmodellen) so alte Wissensbestände rekonstruieren und einen Teil der kulturellen Schäden, die Kolonialismus und Christianisierung verursachten, heilen. Dabei darf aber nicht verschwiegen werden, dass es von Grönland bis Südafrika oft kirchliche Organisationen waren, welche die kunsthandwerkliche Produktion für den Export initiierten.
Die Tagung findet im Rahmen des vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Forschungsprojektes „Hanseaten als Kopfjäger?“ statt. Sie wird von der Völkerkundesammlung der Hansestadt Lübeck und dem Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) organisiert und soll den fachlichen Austausch über ein ebenso komplexes wie kontroverses Themenfeld bieten. Wir möchten ein möglichst breites Spektrum an Themen abdecken und Potenziale dieses Forschungsfeldes ausloten. Gesucht werden Kurzvorträge von 10-15 Minuten oder Poster-Präsentationen zu konkreten historischen Settings und musealen Objekten unter den folgenden Fragen:
- Welche Belege für eine aktive indigene Rolle in Objekttransfers finden sich in Schriftquellen wie z.B. kolonialen Reiseberichten?
- Gibt es auch Hinweise auf einen erfolgreichen passiven oder aktiven Widerstand gegen die europäische Sammelwut?
- Welches waren die wichtigsten Produktionsstätten, Handelszentren und -formen für den kolonialen Ethnographica-Handel?
- Sind einheimische Hilfskräfte, die koloniale Raub- und Sammlungsreisen unterstützten, namentlich bekannt und welche persönlichen Ziele verfolgten sie?
- Wurden von indigener Seite auch menschliche Überreste wie Skalps, Schrumpfköpfe oder übermodellierte Schädel aktiv zum Verkauf angeboten und vielleicht sogar zu diesem Zwecke eigens produziert?
- Ab welcher Zeit ist für verschiedene Weltgegenden eine gezielte Exportproduktion zu beobachten? Und wann eine künstlerische Anpassung an den europäischen Geschmack? Welche Rolle kommt dabei speziellen Themenfeldern, wie Naturszenen, religiösen und erotischen Darstellungen, zu? Reflektieren diese Werke überhaupt eine einheimische Weltsicht oder bedienen sie lediglich europäische Klischees?
- Wie verhält es sich mit dem einheimischen Handel von Archäologica oder entsprechenden Fälschungen? Welche Techniken wurden damals (und z.T. bis heute) verwendet, um Objekte künstlich älter oder gebraucht erscheinen zu lassen?
- Gibt es an konkreten Exponaten Hinweise darauf, dass z.B. Ritualgegenstände entweiht oder ungeweiht verkauft wurden?
- Legen Schriftquellen und Objekte nahe, dass in den Herkunftsgemeinschaften zwischen sakralen Originalen und Kopien für den europäischen Markt differenziert wurde?
wurde? - War die Hinwendung zum Christentum oder der Wunsch, sich nicht mehr verehrter aber immer noch als wirkungsmächtig geltender Ritualgegenstände zu entledigen, eine Motivation für Verkäufe?
- Welche Rolle spielten kirchliche Institutionen und inwiefern kann christliches Kunsthandwerk als ein Ausdruck indigener Kultur gelten?
- Es gilt aber auch kritisch zu hinterfragen, ob dieser Handel wirklich fair und auf Augenhöhe erfolgte: Welche Auswirkungen hatten koloniale Machtstrukturen in den damaligen Produktionsverhältnissen, Preisgestaltungen und Handelsnetzwerken?
Die Tagung findet am 25. und 26. März 2024 im Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL), Königstr. 42, 23552 Lübeck, statt und ist als Präsenzveranstaltung geplant. Reise- und Übernachtungskosten können vom ZKFL übernommen werden, sofern keine andere Möglichkeit der Förderung besteht.
Bitte senden Sie zur weiteren Planung ihre Vorschläge in Form von einem maximal einseitigen Abstract sowie einer Kurzbiographie (als Office-Dateien) bis zum 06. Januar 2024 an den Leiter der Lübecker Völkerkundesammlung Dr. Lars Frühsorge unter