Die Vermittlung von Geschichtsbewusstsein im Sinne einer kritischen und quellengestützten Auseinandersetzung mit der Geschichte ist unbestreitbar ein grundlegendes Ziel der Geschichtsdidaktik. Eine wichtige Rolle spielen dabei in der „public history“, aber auch im schulischen Unterricht und in der universitären Ausbildung Museen sowie Gedenk- und Dokumentationsstätten an historischen Orten. Hier wird Sachquellen – Originalobjekten, Denkmalen, Gebäuden oder Relikten davon – oftmals eine wichtige Rolle in der Vermittlungsarbeit zugeschrieben. Doch braucht man diese wirklich? Bietet das Lernen in Museen und Gedenkstätten (vor allem solchen an historischen Orten) gegenüber anderen Formen der Geschichtsaneignung (Unterricht, Filme, Bücher, Internet, Theater, Kunst, transgenerationeller Dialog etc.) wirklich einen Mehrwert? Inwieweit hilft das Lernen anhand und mit Sachquellen überhaupt bei der Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins?
Diese Fragen bilden den Hintergrund einer Tagung zum Thema „Lernen mit Sachquellen“, die Gedenkstättenmitarbeitende mit Expert_innen aus dem Bereich der Museumskunde und -didaktik, der Geschichtswissenschaft, der Archäologie und der Lernpsychologie sowie der Kognitionswissenschaft zusammenführen soll. Ganz bewusst sollen dabei die beiden Sphären der Gedenkstätten und der (historischen) Museen zusammengeführt werden – insbesondere vor dem Hintergrund, dass beide zumeist wenig miteinander in Dialog treten und von den jeweiligen Erfahrungen profitieren. In beiden Bereichen wurden in den vergangenen 20 Jahren fundierte didaktische Konzepte mit differenzierten Formaten entwickelt. Bisweilen wurden diese in ihrer Nachhaltigkeit und Sinnhaftigkeit jedoch nicht ernsthaft wissenschaftlich geprüft oder werden trotz fehlender positiver Erfahrungen weitergeführt. In vielen Gedenkstätten etwa wird nach wie vor als Standardprogramm eine maximal zweistündige Gelände- und/oder Ausstellungsführung angeboten. Ein weiteres verbreitetes Bildungsformat, das in den 1980er Jahren entwickelt wurde und dessen Sinnhaftigkeit 30 Jahre später hinterfragt werden kann, sind Workcamps, bei denen Jugendliche oder Erwachsene bauliche Relikte freilegen oder Gräber pflegen.
Im Mittelpunkt der didaktisch ausgerichteten Tagung soll die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen historischen Lernens mit Sachquellen (hier vor allem museale Objekte und bauliche Relikte an historischen Orten) stehen: Wie können die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften Haptik, Ästhetik, Aura, Authentizität und Emotionalität den Prozess der Geschichtsaneignung unterstützen? Was können diese Zeugnisse erzählen, was nicht auch andere Quellen erzählen? Wieviel Offenheit und Multiperspektivität erlauben Sachquellen an (KZ-)Gedenkstätten? Welche Rolle spielen historische Räume und bauliche Strukturen?
Mit diesen Leitfragen wendet sich die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten an Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen, die ihre Perspektive auf das Thema während der o.g. Tagung in halbstündigen Referaten vorstellen möchten. Die Referate sollen maximal eine halbe Stunde umfassen, damit mindestens dieselbe Zeit für die Diskussion zur Verfügung steht.
Denkbar sind folgende Themen oder Fragestellungen, wobei theoretische oder methodische Reflexionen ebenso wie Beispiele aus der Praxis willkommen sind:
a) Didaktische Formate:
– Wie wird der historische Raum mit seinen Denkmalen und erhaltenen Bauten oder Relikten didaktisch (erfolgreich) genutzt? Wie können Gegenstände im Museum oder in Ausstellungen bei der Geschichtsvermittlung zum Einsatz kommen?
– Welche Rolle spielt im Lernprozess Geschichte „zum Anfassen“? Wie sollte sich das Verhältnis zwischen kognitiv-analytischen und affektiven Zugängen gestalten? Wo liegen die jeweiligen Grenzen? Welche Zielgruppen werden mit welchen Methoden erreicht?
– An welchen historischen Orten sind Formate wie Rollenspiele, Reenactments oder Kostümführungen einsetzbar? Ist dem zu vermittelnden Narrativ (zum Beispiel Geschichte der Gewalt) oder dem Zeithorizont (zum Beispiel die Nähe zur Gegenwart) dabei Rechnung zu tragen?
b) Lernprozesse:
– Welche didaktische Hilfestellung ist nötig, um die Relikte und museale Objekte „zum Sprechen“ zu bringen?
– Welche Rolle spielt das Original?
– Welche Rolle spielt die Imaginationsfähigkeit in der Bildungsarbeit? Welche Möglichkeiten der (ggf. digitalen) Rekonstruktion/Nachzeichnung baulicher Strukturen und Relikte gibt es? Sollten Gegenstände in ihrem einstigen Umfeld gezeigt werden oder genügt eine Präsentation in Vitrinen?
– Welche Rolle spielt in der Bildungsarbeit und in Ausstellungen die „Authentizität“ der Relikte? Inwieweit kann diese durch Nachbildungen ersetzt werden (etwa aus konservatorischen Gründen oder weil die Originale nicht zugänglich sind)?
c) Erfolgsanalysen:
– Welche Ergebnisse hat bislang die wissenschaftliche Evaluation der o.g. Formate ergeben? Wie erfolgreich sind die jeweiligen Formate, um ein „Lernen aus der Geschichte“ zu ermöglichen und historisches Urteilsvermögen zu stärken/entwickeln?
d) Erhalt der Sachquellen – erfolgreiche Bildungsarbeit: Ein Widerspruch?
– Wie viele und welche Relikte braucht die Bildungsarbeit? Bestehen Zielkonflikte zwischen dem Erhalt der Relikte und Gegenstände und didaktischen Erfordernissen? (Minimierung der Relikte zur Maximierung des didaktischen Potentials)?
Angenommene Referent_innen erhalten ein Honorar in Höhe von 200,00 EUR. Zusätzlich übernehmen die Veranstalter die Reise- und Unterkunftskosten.
Es ist vorgesehen, nach der Tagung in Zusammenarbeit mit dem Portal „Lernen aus der Geschichte“ der Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V. einen Sammelband mit den Ergebnissen der Tagung zu publizieren.
Wenn Sie daran interessiert sind, die Tagung durch ein Referat zu bereichern, senden Sie bitte Ihre maximal zweiseitige Zusammenfassung Ihrer Fragestellung und Ihrer Thesen sowie einen kurzen CV bis zum 31. März 2017 in digitaler Form an .
Kontakt:
Katrin Unger
Gedenkstätte Bergen-Belsen
Anne-Frank-Platz, 29303 Lohheide
05051-4759198
05051-4759118